Mein Sohn ist jetzt am Ende der zweiten Klasse. Lesen fällt ihm schon immer schwer. Er kann zwar Worte langsam erlesen, verwechselt aber sehr oft p, b, d und q oder t und f. An schlechten Tagen fängt er in der Mitte oder sogar am Ende des Wortes an. Manchmal macht er auch aus den Buchstaben eines Wortes in neuer Reihenfolge ein neues Wort, welches nichts mit dem eigentlichen Wort zutun hat. Sieht er eine Seite Text, kriegt er schon rote Wangen und ist verzweifelt.
Die Schule schickt in allen Fächern Arbeitsblätter mit Fragen, die gelesen und beantwortet werden sollen. Oft muss dafür noch ein Extratext gelesen werden.
Die Schule rät uns, einfach immer weiter täglich zu üben. Das scheint mir mittlerweile ziellos und verschlimmert die Situation für die ganze Familie. Was können wir bloß tun?
Ich kann mir lebhaft vorstellen, wie belastend die vielen zu lesenden Arbeitsblätter für Ihren Sohn sind. Ihr ungutes Gefühl, was das „Immer-weiter-Üben“ angeht, ist absolut berechtigt.
Die Verwechslung ähnlicher Buchstaben und die Verdrehung von Buchstaben spricht für ein Konzentrationsproblem, gepaart mit einer Leseschwäche.
Sich Stunden um Stunden durch Texte und Arbeitsblätter zu quälen, hilft Ihrem Sohn gar nicht. Sinnvoller ist es, ihm die Texte und Arbeitsblätter vorzulesen, so dass er nur die Aufgaben lösen muss. Das Lesenlernen sollte dann anhand gänzlich anderer Materialien erfolgen. Außerdem sollte Ihr Sohn noch nicht durch stundenlanges Arbeiten erschöpft und damit unkonzentriert sein, wenn Sie mit ihm Lesen üben.
Um ihm die Leserichtung zu verdeutlichen, können Sie oben auf jedes Blatt einen ganz dicken, roten Pfeil malen, der in die Leserichtung zeigt.
Außerdem kann man einen weißen Streifen Pappe unter die Zeile legen. Von Blättern mit Lesefenstern halte ich nicht sehr viel, meiner Erfahrung nach schaffen sie neue Probleme, indem das Kind kein Gefühl mehr dafür hat, wo es im Text ist und das auch nicht lernt, .
Stattdessen leite ich immer dazu an, den Finger ganz genau unter die Silbe zu halten, die gerade gelesen wird. Diese Technik kann ein Kind lange Zeit beibehalten, auch wenn die Wörter schwerer und die Texte länger werden. Ein Vorteil ist auch, dass man seinen Finger eigentlich immer dabei hat und es keine Katastrophen wegen vergessener oder verloren gegangener Hilfsmittel gibt.
Leseschwache Schüler benötigen Lesestoff, der ihnen Erfolgserlebnisse verschafft!
Bei dem Material, mit dem ich arbeite und das ich in meiner Reihe „LRS geht weg!„ veröffentlicht habe, sind sowohl die Buchstaben als auch die Zeilenabstände so groß, dass die Schüler nicht mehr so leicht durcheinander kommen können. Dadurch, dass alles in Silben gegliedert ist und jede Silbe einzeln und konzentriert gelesen werden soll, wird die Konzentration beim Lesen gefördert. Für diese Konzentration ist auch wichtig, dass beim Üben nicht von vornherein festgelegt wird, wie viele Seiten gelesen werden müssen, sondern dass das Kind aufgefordert wird, bei jedem Buchstaben genau hinzugucken und jede Silbe ganz sorgfältig und langsam zu erlesen.
Nur wenige, weitgehend korrekt gelesene Sätze sind nicht nur sehr viel motivierender, sondern auch sehr viel effektiver als das flüchtige und fehlerhafte Lesen von ganz viel Text.
Sie sollten Ihren Sohn für alles loben, was er fehlerfrei liest. Durch diese Rückmeldung begreift er, dass aufmerksam zu lesen wichtiger ist als die Menge. Nach jedem Satz sollte er außerdem erzählen, was in dem Satz stand, damit er nicht anfängt, vollkommen sinnfrei zu lesen und die Hauptaufgabe darin zu sehen, sich irgendwie durch die Buchstaben zu schaffen.
Zu viele und zu schwere Aufgaben befördern nicht das Lernen, sondern verursachen Frustration, Stress und auf Dauer Lernverweigerung.
Eventuell können Sie mit der Lehrkraft Ihres Sohnes vereinbaren, dass er etwas weniger Arbeitsblätter bekommt, damit mehr Kraft für das gezielte Lesentraining übrig bleibt.
Aus der Ferne lässt sich nicht sicher beurteilen, wie genau das Niveau Ihres Sohnes ist. Ich habe aber den Eindruck, dass er zunächst nur satzweise lesen sollte.
Das bedeutet, dass Sie mit meinem Leselernbuch „Verschleifend Lesen lernen“ anfangen sollten. Quatschsätze und Sätze, deren Inhalt durchaus möglich ist, stehen dort nebeneinander. Nach jedem Satz kann gut und sinnvoll kurz über den Inhalt gesprochen werden. Die Sätze werden ganz langsam länger, dann gibt es erste, kleine Geschichten, dann etwas längere, so dass eine kontinuierliche Steigerung stattfindet. Auch das Q wird dort durchgearbeitet.
Im Anschluss daran können Sie mit Ihrem Sohn meine beiden Kinderromane lesen, die ebenfalls durchgehend silbiert sind, in großer Schrift, mit großen Zeilenabständen und mit ganz kurzen Kapiteln, so dass kein Kind verleitet wird, aus Überforderung wieder in das flüchtige Lesen zu verfallen: Wür-mi, Wür-ma und ich: Bd.1: Der ge-fähr-li-che Weg zum Ho-nig. Bd.2: Mei-ne A-ben-teu-er in den Co-ro-na-fe-ri-en.
Zusätzlich empfehle ich Ihnen, ganz genau die Konzentrationsfähigkeit Ihres Sohnes zu beobachten. Ist er manchmal unkonzentrierter und hippeliger als sonst? Wie ist es, wenn er weiße Nudeln, Süßigkeiten, Nutellabrot , Pudding, Fruchtjoghurt oder Ähnliches gegessen oder Fruchtsaft oder Limonade getrunken hat?
Lesen Sie dazu auch meinen Blogartikel „Wenn Ritalin nicht anschlägt. Bessere Konzentration auch ohne Medikamente.“
Alles, was ich darin beschreibe, beruht auf persönlichen Beobachtungen. Oft hilft es, das Schokolädchen oder den Saft erst nach dem Lernen zu geben.
Ich drücke Ihrem Sohn die Daumen, dass die Schule seinen Bedürfnissen entgegenkommt ! Bleiben Sie und Ihre Familie gesund!