Obwohl seit mehreren hundert Jahren über das Lehren und Lernen nachgedacht wird, scheint es schwieriger denn je, durchschnittlich begabten Schülern die elementaren Fähigkeiten des Lesens, Schreibens und Rechnens sicher zu vermitteln. Bisweilen drängt sich der Eindruck auf, dass Schüler es leichter hätten, wenn weniger Didaktiker weniger nachgedacht hätten. Die Folgen dieses Nachdenkens führen zu einem Boom von Nachhilfeinstituten, zu Heerscharen von Nachhilfelehrern und sorgen für steten Nachschub in meiner Lerntherapiepraxis, ich müsste also dankbar sein.
Wenn mir die Eltern gegenübersitzen, fällt mir das aber immer wieder schwer. Denn Lerntherapie ist keine Kassenleistung. Individuelle Lerntherapie ist teuer. Entgegen gängigen Klischees sind Eltern, die sich das für ihre Kinder leisten, weder von Ehrgeiz zerfressen noch besonders reich, sondern in erster Linie verzweifelt.
Eine meiner Haupttätigkeiten besteht darin, die Folgen des Lesen- und Schreibenlernens anhand der Druckschrift zu beheben. Doch auch das nach außen so spielerisch anmutende Frühenglisch produziert immer mehr Unsicherheit. Ziel des Unterrichts in Frühenglisch ist Hörverstehen und Kommunikationsfähigkeit. Vokabeln werden nicht gelernt, Englisch soll Spaß machen. Leider funktioniert dieser Spaß bei den Schülern, die zu mir kommen, oft nicht. Wörter wie „apple“ werden zwar erfreulich korrekt ausgesprochen, doch schon beim Aufzählen der Körperteile werden Schüler ähnlich unsicher wie ich beim Wiederholen unbekannter Namen, die ich nicht geschrieben vor mir sehe. Beim Sprechen von Sätzen steigert sich diese Unsicherheit dann oft zu einem undefinierbaren Sprachbrei. Das „th“, für das man eigentlich reichlich Zeit hätte, wird dagegen gern den weiterführenden Schulen überlassen. Stattdessen wird ein d gesprochen, bisweilen sogar noch von Schülern der sechsten und siebten Klasse.
Nun stört es einen durchschnittlichen Schüler wenig, wenn er etwas nicht richtig kann. Das ändert sich jedoch schlagartig, wenn eine Klassenarbeit über das Thema ansteht, und im Frühenglisch der vierten Klasse werden durchaus Klassenarbeiten geschrieben. Schüler sollen es dann ohne Vokabellernen und ohne systematischen Grammatikunterricht fertigbringen, die richtigen Wörter und Verbformen in einen Lückentext einzutragen, den sie bestenfalls zur Hälfte verstehen. Meist stehen die passenden Wörter und Verbformen zur Auswahl, so dass die gängigste Strategie ein von diffusem Bauchgefühl unterstütztes Raten ist. Interessanterweise haben diejenigen Kinder die geringsten Probleme, die gegen die Vorgaben des Lehrplans ganz normal Vokabeln und Verbformen lernen müssen. Der Vorsprung dieser Kinder in der 5. Klasse beträgt je nach Schulart drei bis sechs Monate.
Befürworter des Frühenglischs sagen, die Missstände lägen daran, dass Frühenglisch oft von Lehrkräften unterrichtet werde, die kein Englisch studiert hätten. Aber genauso wenig wie die Theorie über die Defizite des real existierenden Sozialismus hinwegtrösten konnte, genauso wenig tröstet Eltern und Schüler ein Ideal des Englischunterrichts in der Grundschule, das mit der Realität viel zu selten etwas zu tun hat. Der Beginn des regulären Englischunterrichts in der fünften Klasse gleicht dann manchmal einer Offenbarung: „Jetzt macht mir Englisch Spaß. Jetzt weiß ich endlich, was ich sage“, erzählte mir eine Schülerin der fünften Klasse, die während der gesamten Grundschulzeit Frühenglisch hatte.
Der Traum, eine Fremdsprache gewissermaßen durch Osmose in sich hineindiffundieren zu lassen, ist verlockend, aber mit zwei Wochenstunden nicht zu erreichen. Babys und Kleinkinder beschäftigen sich ihre gesamte wache Zeit mit Sprache. Dass schon die betreute Zeit in Kita und Schule für das Erlernen einer neuen Sprache knapp bemessen ist, zeigen die unzureichenden Deutschkenntnisse vieler Kinder mit Migrationshintergrund, die untereinander und privat nur in ihrer Muttersprache sprechen. Eltern erzählen mir bisweilen, dass sie mit der Englischlehrkraft gesprochen hätten und auch die der Auffassung sei, dass Frühenglisch so, wie es augenblicklich unterrichtet werde, wenig bringe und Schüler überfordere. Dass Baden-Württemberg Frühenglisch in Klasse 1 und 2 aufgibt, um die Stunden für intensiveren Deutsch- und Mathematikunterricht zu nutzen, ist aufgrund der fragwürdigen Erfolge des Unterrichts in Frühenglisch nur folgerichtig. Wenn ein Kind das Pech hat, im Hauptschulbereich zu landen, fällt das Verstehen mitunter weiterhin schwer. Ich habe schon Englischbücher ohne systematischen Grammatikteil gesehen, dafür mit knallbuntem und chaotischem Layout. Wer in so einem Buch findet, was er lernen muss, ist hochbegabt. Immer wieder begegne ich Schülern, die äußerst erstaunt sind, dass es im Englischen Regeln gibt.
Und immer wieder ahnt man das Bestreben, Schüler in ihrer Welt abzuholen. Doch Schüler legen keinen Wert darauf, dass Lehrer die gleichen Jeans und Sweatshirts tragen wie sie selbst. Sie legen auch selten Wert darauf, mit einer vermeintlichen Jugendästhetik beglückt zu werden, die beim Erscheinen des Schulbuchs sowieso längst veraltet ist. Schüler mögen Systematik. Sie möchten übrigens auch gern Lernzeit sparen. Eine Regel nicht selbst erahnen zu müssen, sondern lernen und anwenden zu dürfen, spart ganz enorm viel Zeit. Schüler wollen auch gern etwas wiederfinden. Sogar eine Grammatikregel. Denn obwohl die wenigsten Jugendlichen in aufgeräumten Zimmern leben, finden sie aufgeräumte Zimmer durchaus angenehm.
Ganz besonders wenig Wert jedoch legen Jugendliche auf sogenannte pädagogisch wertvolle Jugendliteratur, die Gefühle wie die erste Liebe zielgruppenorientiert aufbereitet. Ich habe Mädchen gegenübergesessen, die durchaus fähig waren, den Inhalt eines Textes zu erfassen, mir aber nur die Hälfte des Inhaltes erzählen mochten, weil der ihnen einfach zu peinlich war. Schulbuchmacher sollten sich gelegentlich daran erinnern, dass Deutschland großartige Dichter und Schriftsteller hat, die Texte über Liebe hingekriegt haben, die nicht peinlich sind. Schüler sind nicht so dumm, sie brauchen nicht ständig vorauseilende Vereinfachung, sondern verkraften ein bisschen deutsche Literatur sehr gut. Schüler verkraften sogar ein bisschen deutsche Grammatik. Leider ist in meinem Umkreis der aus der Montessori-Pädagogik stammende Ansatz beliebt, Wortarten und Satzglieder mit mathematischen Symbolen wie Dreiecken und Kreisen zu verknüpfen. Das soll das Lernen erleichtern. Bei mir kommt dann an: „Wir hatten heute etwas ganz Komisches. So mit Kreisen, das habe ich gar nicht verstanden.“
Dahinter steht die Idee des anschaulichen Lernens. Zusammengesetzte Verben mit zwei Halbkreisen zu kennzeichnen hat noch eine gewisse Logik, obwohl das Unterstreichen mit der gleichen Farbe zu einem vergleichbaren Lerneffekt führt. Aber was in aller Welt hat ein Nomen mit einem Dreieck zu tun? An solchen weitgehend sinnfreien Symbolen scheitern insbesondere konzentrationsschwache Kinder, die es ansonsten wunderbar hinkriegen, Wortarten und Satzglieder korrekt zu identifizieren. Nur reicht diese Fähigkeit ohne die korrekt gemalten Symbole selten für eine gute Note.
Ein grundlegendes Problem scheint mir zu sein, das Lernen zu sehr erleichtern zu wollen. Da wird der Motor der Kreativität angeworfen, und ganze Industriezweige leben von den erdachten Produkten. Doch oft wird es dadurch komplizierter statt einfacher. Denn anders als Erwachsene lernen Grundschüler noch nicht verknüpfend. Die fangen gerade erst an mit dem Lernen. Da fehlen die Grundlagen, mit denen man verknüpfen könnte. Deshalb müssen die meisten Kinder die vorgebliche Lernerleichterung mit viel Mühe noch zusätzlich zu dem eigentlichen Lernstoff lernen.
Auch das Vokabellernen wird gern neu erfunden, weil es vereinfacht werden soll. Und auch beim Vokabellernen wird immer wieder empfohlen, sich ein Wort mit Hilfe einer Eselsbrücke zu merken. Da sitzen dann die Schüler und denken verzweifelt über eine Eselsbrücke nach. In der Zeit, bis sie endlich eine finden, hätten sie sich ohne Probleme zwei Vokabeln nachhaltig einprägen können. In einer ruhigen, reizarmen Lernatmosphäre, mitsprechend und mitschreibend.
Was ich in meiner Lerntherapiepraxis erlebe, ist nicht repräsentativ und sicher nur ein Ausschnitt, doch dieser Ausschnitt legt Wunden frei. Denn es gibt Schüler, die mit jeder Methode gut lernen. Es gibt Schüler, die trotz überfrachteter Methoden noch leidlich alles mitbekommen, und es gibt Schüler, die wegen überfrachteter Methoden scheitern. Einige aus der letzten Gruppe landen dann bei mir.
Sehr geehrte Frau Totzeck, liebe Kollegin,
herzliche Gratulation zu Ihrem Artikel. Ich bin seit 25 Jahren Nachhilfepädagoge und stimme allem zu, was Sie da schreiben.
Mit den besten Grüßen, Andreas Emmerich
Sehr geehrter Herr Emmerich, lieber Kollege,
es freut ich natürlich, dass meine Beobachtungen keine Einzelmeinung sind, aber noch mehr erschreckt es mich. Denn was Sie und ich beobachten, geht zu Lasten der Kinder und zu Lasten des Familienlebens.
Das bedeutet leider, dass es – wie Sie sicher selbst wissen – noch mehr Baustellen gibt.
Mit herzlichen Grüßen
Veronika Totzeck