„Zwei Dinge sollen Kinder von ihren Eltern bekommen: Wurzeln und Flügel.“
Dieses Zitat unbekannter Herkunft, das fälschlicherweise oft Johann Wolfgang von Goethe zugeschrieben wird, beschreibt, wenn man es zu Ende denkt, die Grundlage freiheitlicher Gesellschaften.
Gleichzeitig zeigt es aber auch die Gefahr, dass Kinder, die von ihren Eltern vergiftete Wurzeln voller Fanatismus, Ideologie und Radikalität bekommen haben, fortfliegen und diesen Fanatismus, diese Ideologie und diese Radikalität auch in andere Gesellschaften tragen.
Ein Kind, das von seinen Eltern Flügel bekommen hat, kann fliegen, wohin es will. Auch in eine andere Richtung, als sich die Eltern das vorstellen.
Die Wurzeln, die ein Kind von seinen Eltern bekommt, sind die Werte, mit denen es aufwächst. Die Unterscheidung zwischen Gut und Böse. Die physische und psychische Unversehrtheit der Mitmenschen, beispielsweise, die nicht gefährdet oder beschnitten werden darf. Die Freiheit der Andersdenkenden. Und auch Familie, Religion und Tradition.
Diese Wurzeln halten ein Kind nicht an einem bestimmten Ort, sondern sind bei ihm, wenn es seine Flügel ausbreitet und fliegt. Denn Kinder nehmen ihre Wurzeln mit in ihre Zukunft.
.Es kann allerdings sein, dass auf dem Boden der Zukunft aus diesen Wurzeln nicht genau das Gleiche sprießt wie auf dem Boden der Vergangenheit.
Die Verantwortung der Eltern ist es, ihrem Kind Wurzeln zu geben, die in einer Zukunft wachsen können, die sie, die Eltern, nicht kennen.
Zu große Beliebigkeit führt zu flachen Wurzeln, die dem Kind keinen Halt geben.
Zu starre Vorgaben führen zu spröden Wurzeln, die leicht brechen und das Kind ohne Wurzeln zurücklassen.
Eltern sind stark, wenn sie das Vertrauen haben, dass die Wurzeln, die sie ihrem Kind mitgegeben haben, ihrem Kind den Halt geben werden, den es braucht. Wenn sie es fortfliegen lassen in sein eigenes Leben. Auch, wenn es weh tut.
Halten Eltern ein Kind fest, so wird es sich entweder von seinen Wurzeln trennen und trotzdem fortfliegen oder resignieren und dableiben.
Wenn es sich von seinen Wurzeln trennen muss, bleibt ihm lebenslang eine Wunde.
Bleibt es da, dann bleibt es mit den Eltern in der Vergangenheit. Es lebt nicht sein Leben, sondern das seiner Eltern. Es verliert die Kraft des Neuen, die Kraft der Zukunft, die Kraft der Zuversicht.
Geben Eltern ihren Kindern vergiftete Wurzeln mit, dann können Kinder dieses Gift weit verbreiten.
Aus einer vergifteten Wurzel wächst nur selten eine schöne Pflanze: Wenn nämlich das Kind sich von seiner Wurzel trennt.
Kinder, die diese Stärke haben, müssen wir unterstützen.
Eine Gesellschaft, die das Gift ignoriert oder gar schönredet, verliert seine Freiheit.
Denn Freiheit ist keine Selbstverständlichkeit. Freiheit muss jeden Augenblick neu hochgehalten, muss jeden Augenblick neu verteidigt werden.
Zu den Flügeln, die wir unseren Kindern geben, gehört das Wissen unserer Zeit.
Auch hier sehe ich eine große Gefahr.
In den USA wird die Evolutionstheorie schon heute an immer mehr Schulen nicht auf der Basis der Erkenntnisse der Wissenschaft unterrichtet.
Eltern sehen es als ihr Recht, ihr Kind dem öffentlichen Schulsystem zu entziehen und selber zu entscheiden, was es wissen darf.
Sogar in meiner kleinen Stadt findet nicht an jeder Grundschule der im Lehrplan festgeschriebene Aufklärungsunterricht statt. Die Begründung: Die meisten Eltern würden ihre Kinder dann sowieso zu Hause behalten. Dazu passt, dass der Weg zum nächsten Arzt, der Jungfernhäutchen „repariert“, kurz ist.
Eltern, die ihrem Kleinkind ein Smartphone vors Gesicht halten, statt sich mit ihm zu beschäftigen, stutzen ihrem Kind die Flügel.
Eltern, die den Fernseher laufen lassen, während ihr Kind seine Hausaufgaben macht, stutzen ihrem Kind die Flügel.
Eltern, die ihr Kind zu spät ins Bett schicken, stutzen ihrem Kind die Flügel.
Eltern, die ihr Kind mit Fertiggerichten und süßen Limonaden ernähren, stutzen ihrem Kind die Flügel.
Eltern, die ihrem Kind keine Anregungen geben, stutzen ihrem Kind die Flügel.
Eine Gesellschaft, die nicht bereit ist durchzusetzen, dass allen Kindern der gesamte Unterrichtsstoff vermittelt wird, stutzt diesen Kindern die Flügel.
Eine Gesellschaft, die nicht bereit ist, für ein gesundes, der Konzentration förderliches Schulessen Geld auszugeben, stutzt den Kindern die Flügel.
Eine Gesellschaft, die das Grundgesetz nicht überall durchsetzt, stutzt Kindern die Flügel.
Erinnern wir uns noch einmal an das Zitat:
„Zwei Dinge sollen Kinder von ihren Eltern bekommen: Wurzeln und Flügel.“
Den Kindern Wurzeln und Flügel zu geben, ist nicht allein Aufgabe der Eltern. Es ist die Aufgabe der Gesellschaft.
Nur Gesellschaften, die diese Aufgabe ernst nehmen, können ihre Freiheit bewahren.