Unser Sohn wird im September 6 Jahre alt. Er ist zwar recht groß und kräftig, aber trotzdem noch sehr verspielt. Wir würden ihn gerne noch 1 Jahr in der Kita lassen, aber sowohl die Erzieherin als auch die Lehrerin, die in der Kita war, sehen angeblich keine Probleme darin, ihn jetzt einzuschulen.
Anders als vor 20 Jahren gibt es augenblicklich eine große Tendenz, Kinder schon mit knapp 6 Jahren einzuschulen. Gerade große und kräftige Kinder werden jedoch oft überschätzt. Manchmal hört man sogar das Argument, dass sie ja problemlos den – völlig überfrachteten – Schulranzen tragen könnten. Das traut man kleineren und schmaleren Kinder eher weniger zu, völlig unabhängig davon, wie weit entwickelt die sind.
Auf der anderen Seite wollen Eltern von groß gewachsenen Kindern diese häufig eher früher als später einschulen, denn sie befürchten, dass ein Kind, das deutlich größer ist als seine Klassenkameraden, deswegen zum Außenseiter wird oder sogar zum Mobbingopfer.
Schulreife hat jedoch weder etwas mit Größe noch unbedingt mit dem Schulstichtag zu tun:
1. Körpergröße hat nichts mit Schulreife zu tun.
Das gilt auch, wenn das Kind rückwärts auf einem Strich gehen und auf einem Bein stehen kann. Denn zur körperlichen Schulreife muss auch die seelisch-geistige Schulreife kommen.
Ein großes Kind wird auch nicht automatisch zum Mobbingopfer. Viel ausgrenzender als die Größe wirkt ein zu kindliches Verhalten, das nicht zum Verhalten der anderen Kinder passt. Ein Kind, das deswegen ganz andere Bedürfnisse und Interessen hat als seine Mitschüler, findet in seiner Klasse auch nur schwer Freunde.
2. Ein schulreifes Kind muss nicht nur eine gewisse Zeit lang stillsitzen können, sondern auch die Fähigkeit haben, kleine Unterschiede wie die zwischen b und d als bedeutungsunterscheidend einzusehen und wahrzunehmen.
Lesen Sie zu diesem Thema meinen Blogartikel „Lerntherapie in der ersten Klasse?“
3. Jungen entwickeln sich in der Regel langsamer als Mädchen
Das bedeutet, dass Jungen meistens auch später schulreif sind als Mädchen. Leider wird diese Tatsache beim Schulstichtag nicht berücksichtigt. Ich erlebe bei mir in der Lerntherapie immer wieder Jungen, deren Hauptproblem darin besteht, dass sie ein Jahr zu früh eingeschult worden sind.
Bisweilen lässt sich das Problem lösen, indem diese Jungen freiwillig das 1. Schuljahr wiederholen. Es gibt aber auch Jungen, deren Leistungen dafür trotz allem nicht schlecht genug sind. Bei diesen Jungen besteht die Gefahr, dass sie sich beim Wiederholen der 1. Klasse aus Langeweile erst recht in eine kindliche Fantasiewelt zurückziehen und nicht rechtzeitig bemerken, wenn wieder Aufmerksamkeit, Konzentration und ein kleines bisschen Anstrengung ratsam wären.
Dieses Problem besteht selbst dann, wenn für die ersten beiden Klassen auch 3 Jahre gebraucht werden dürfen. Auch in diesem Fall kann es gerade an Jungen vollkommen vorbeigehen, dass zu Schule etwas Anstrengung gehört. Und das wird dann in den höheren Klassen durchaus zu einem Problem.
- Gerade Jungen, die nur knapp offiziell schulpflichtig sind, haben nicht immer die nötige Schulreife und sollten lieber erst 1 Jahr später eingeschult werden! Das kann auch Mädchen betreffen!
In einigen Bundesländern gibt es für schulpflichtige Kinder, die noch nicht schulreif sind, Grundschulförderklassen bzw. Schulkindergärten, wo sie von Sonderpädagogen und Förderlehrern besonders gefördert werde. Diese Einrichtungen sind für Kinder mit besonderem Förderbedarf ein Segen und ein Gewinn.
Ein im September geborener Junge, der noch nicht schulreif ist, ist jedoch nicht entwicklungsverzögert und benötigt keine Spezialförderung, sondern einfach noch ein Jahr in der Kita.
- Kämpfen Sie darum, dass Ihr Sohn noch ein Jahr in der Kita bleiben darf!
Das ist oft leider gar nicht so einfach. Weil es in vielen Gemeinden zu wenig Kitaplätze gibt, ist der Druck groß, Kinder in die Schule zu entlassen und so freie Plätze zu schaffen.
Ich drücke Ihnen auf jeden Fall die Daumen!
Ich habe meinen Sohn, im Spätsommer geboren, vor vielen Jahren zurückstellen lassen. Eine wichtige Entscheidung. Er war noch sehr unreif und verspielt. Der Stichtag war damals der 30.09. für die Einschulung.
Obwohl der Kindergarten mich nicht unterstützt hat habe ich dafür gekämpft. Er hatte dann einen recht guten Start in der Grundschule. Sein lebhaftes Wesen hat er immer behalten – trotz der Rückstellung. Ich habe aber ein völlig anderes Kind eingeschult als ich das im Jahr davor getan hätte. Ich habe es nie bereut – auch wenn es ein großer Schritt war ihn nicht mit seinen Freunden einzuschulen.
Er geht immer einigermaßen gerne zur Schule und bekam dann eine eindeutige Gymnasialempfehlung und kommt jetzt auch gut dort zurecht.